Historiker: „Der Fall Aiwanger ist ein neuer Tiefpunkt“

Hubert Aiwanger nutzt die Affäre um das Flugblatt für seine eigenen Zwecke, kritisiert der Historiker Jürgen Zimmerer
Foto: Imago / Eibner
Der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer (58) sieht im Fall Aiwanger einen „Tiefpunkt in der Geschichte der deutschen Erinnerungskultur“. „Im Rückblick wird die Affäre Aiwanger-Söder als ein Wendepunkt in der Erinnerungskultur angesehen werden“, sagte der Professor der Universität Hamburg dem Evangelischen Pressedienst (epd). In der Debatte zeige sich die Sehnsucht vieler Deutscher nach einem Schlussstrich.
„Durch Aiwanger ist dieser Schlussstrich unter der Geschichte salonfähig geworden und wird sogar in Bierzelten gefeiert“. Dies sei eine „Katastrophe für die Erinnerungskultur“, auch weil dadurch Menschen verhöhnt würden, die sich für die Erinnerung an NS-Verbrechen engagieren. Zimmerer ist Autor des jüngst erschienenen Buches „Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein“.
Man sieht ganz klar, welchen Wählergruppierungen es mit #Vergangenheitspolitik und einer kritischen #Erinnerungskultur ernst ist, und wem nicht, und wer stattdessen einen #Schlussstrich will.
Denn darum geht es im Kern. #Aiwanger zeigte der #Vergangenheitsaufarbeitung den 🖕! https://t.co/fXyuSr1hks— Juergen Zimmerer (@JuergenZimmerer) September 5, 2023
Seit Tagen steht der bayerische Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) wegen des Umgangs mit einem antisemitischen Pamphlet aus seiner Oberstufenzeit in der Kritik. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält an seinem Wirtschaftsminister fest. Entscheidend für die Erinnerungskultur sei nicht, was Aiwanger vor 35 Jahren genau getan habe, betonte Zimmerer. Es komme darauf an, wie er heute mit den Vorwürfen umgehe und wie die Gesellschaft sein Verhalten bewerte. Dass Aiwanger die Affäre nutze, um politisch zu punkten und sich selbst als Opfer darstelle, sei eine Zumutung für viele, die sich um die Aufarbeitung der Vergangenheit bemühen – „von den Opfern des Nationalsozialismus und ihren Nachkommen ganz zu schweigen“.
„Stimmung gegen Fremde“
Jüdische Einrichtungen müssten von der Polizei geschützt werden, Holocaust-Gedenkstätten würden geschändet, die Anzahl antisemitischer und rassistischer Vorfälle steige seit Jahren. „Offenbar war die deutsche Vergangenheitsbewältigung nicht so erfolgreich, wie es sich die deutsche Gesellschaft gerne selbst attestiert“, sagte der Historiker. Politische Reden zu Gedenktagen drohten zum „leeren Ritual“ zu erstarren. So werde etwa an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert, zu denen hunderttausende Geflüchtete gehörten. „Und am nächsten Tag votieren die gleichen Politiker gegen die Aufnahme von Flüchtenden oder machen Stimmung gegen Fremde.“
Einen angedachten Besuch Aiwangers hat die KZ-Gedenkstätte Dachau abgelehnt. Von öffentlichkeitswirksamen politischen Besuchen im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl möchte die KZ-Gedenkstätte Dachau absehen“, sagte eine Sprecherin der taz. Die Gedenkstätte reagiert damit auf den Vorschlag des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, dass Aiwanger das frühere Konzentrationslager in der Nähe von München besuchen sollte. Die aktuelle Debatte zeige aber, so die Sprecherin, „wie wichtig eine lebendige Erinnerungskultur und der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus nach wie vor ist“.