Kurze Begegnungen am Erzählkiosk

Christoph Busch in seinem gemieteten Kiosk.
Foto: Daniel Bockwoldt/dpa
Hamburg. Neulich sind ihm ein paar Tränen über die Wangen gelaufen. Eine Frau war zu seinem Erzählkiosk in der U-Bahn-Station gekommen und hatte ihre Geschichte erzählt – eine sehr traurige. Anschließend ging Christoph Busch erst einmal einen Kaffee trinken in der Bäckerei über der Haltestelle, wie er es oft macht nach längeren Gesprächen. Worum es bei der Frau genau ging, möchte Busch nicht verraten, aber er habe sich Sorgen um sie gemacht. Als sie einen Tag später mit einem Lächeln im Gesicht an die Scheibe seines Kiosks klopfte, flossen bei Busch Tränen der Erleichterung.
Ein offenes Ohr für alle und alles
Solche Begegnungen hat Busch in diesen Tagen einige, denn der freiberufliche Drehbuchautor hat eine ungewöhnliche Idee in die Tat umgesetzt. Er hat den Kiosk der U-Bahn-Haltestelle Emilienstraße für einige Monate gemietet und sitzt nun wochentags dort, wo vorher Zeitungen, Brötchen und Zigaretten über den Ladentisch gingen. „Das Ohr“ steht groß am Fenster des Kiosk. „Ich höre Ihnen zu. Jetzt gleich. Oder ein anderes Mal.“ Inzwischen ist es mit „Jetzt gleich“ etwas schwierig geworden, denn viele Menschen möchten mit Busch reden, was daran liegen könnte, dass er ihnen etwas Kostbares schenkt: Zeit. „Es gibt ein generelles Gefühl, dass wir zu wenig miteinander reden“, hat der Zuhörer Busch festgestellt.
Reden – das möchten in dem Kiosk viele unterschiedliche Leute. Einige wollen nur eine kleine Anekdote erzählen. Andere Besucher seien schon in therapeutischer Behandlung, sagt Busch, der Wert darauf legt, dass er natürlich keinen Psychologen ersetzen könne. Bei den oft traurigen Geschichten hat sich ein Thema herauskristallisiert: Während draußen die Züge der Linie U2 vorbeifahren, erzählen viele Menschen im Kiosk von schlechten Erlebnissen während ihrer Kindheit. „Ich bin erstaunt, dass es bei vielen Leuten bis ins hohe Alter nachwirkt“, berichtet Busch.
Ein Projekt zwischen Kirche und Kunst
Auch wenn auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit zu sehen ist: „Der Erzählkiosk ist ein Beichtstuhl“, sagt Busch. Die Menschen könnten ihm ihr Herz ausschütten, ohne ihn jemals wiederzusehen. Das sei ein ähnlicher Effekt wie bei einem Seelsorger in einer Kirche. Außerdem ist der Kiosk ein geschlossener Raum, in den man – genau wie bei einem Beichtstuhl – von außen nur schwer hineinschauen kann. Außerdem sagt Busch, dass bei ihm natürlich auch das Beichtgeheimnis gelte. Und als der Hamburger beim Aufbauen den Leuten erzählt habe, dass er in dem Kiosk zuhören wolle, sei er gleich gefragt worden, ob er Pastor sei. Seitdem sagt er gern, dass der Erzählkiosk „ein Projekt zwischen Kirche und Kunst“ sei.
Erlebnisse werden anonym in einem Buch verarbeitet
Bei seinen Gesprächen mischt sich der Kioskbesitzer auf Zeit auch ein. Er hört zu, gibt Ratschläge und macht auch mal einen Scherz. Viele Besucher würden wiederkommen und ihm Rückmeldung geben, berichtet er. Auch traurige Geschichten haben dabei für ihn immer eine schöne Seite. Denn allein dadurch, dass die Menschen darüber reden wollten, würden sie schon für etwas Positives sorgen. Im Frühsommer schließt er den Kiosk. Dann möchte Busch ein Buch über seine Zeit in der U-Bahn-Haltestelle Emilienstraße schreiben. Ein Verleger habe schon Interesse gezeigt, und Stoff gibt es ohnehin genug, auch wenn Busch natürlich versichert, dass niemand Angst haben müsse, sich in dem Buch wiederzuerkennen. Vielleicht kommt auch jene ältere Frau vor, die neulich mit zitternden Knien in den Kiosk kam. Ihre U-Bahn war gerade im Tunnel stecken geblieben, wegen eines Defekts musste der Zug rückwärts wieder in die Station Emilienstraße fahren. Die Frau war bedient – denn eigentlich wollte sie mit der Bahnfahrt etwas gegen ihre Klaustrophobie tun.