Wenn Menschen anders leben und lieben

Mareike Gintzel ist Pfarrerin in Witten und Beauftragte für queeres Leben und Lieben im Kirchenkreis Hattingen-Witten. Mit Anke von Legat sprach sie über ihr Engagement in diesem Bereich und über ihre Hoffnung, dass die Frage nach dem Geschlecht irgendwann keine Rolle mehr spielt.
Das Kürzel LGBTQIA+ sieht man in den letzten Jahren immer häufiger. Was bedeuten die Buchstaben?
Mareike Gintzel: Hinter dem Kürzel steht der Versuch, Menschen sichtbar zu machen, die bisher in unserer Sprache und unserer Gesellschaft kaum sichtbar waren. Es steht für „lesbisch, gay (=schwul), bisexuell, trans*gender, queer, intersexuell, asexuell/aromantisch“ – also für Formen des Liebens und der Geschlechtsidentität, die über die Zweiteilung in Mann-Frau hinausgehen. Ich selbst bezeichne mich am liebsten als queer oder auch als pansexuell. Das heißt, dass mein Begehren nicht auf ein Geschlecht begrenzt ist. Ich liebe einen Menschen; nur das ist für mich ausschlaggebend.
In der evangelischen Kirche ist es nach langem Ringen möglich, offen verschiedene Formen von Sexualität zu leben – auch als Pfarrerin oder Pfarrer. Wie haben Sie das erlebt?
Ich habe mich schon vor meinem Studium mit den vielfältigen Formen von Geschlechtlichkeit auseinandergesetzt und war solidarisch mit Menschen, die eben nicht „in die Norm“ passten. Während meines Studiums war ich aktiv in Hochschulgruppen, habe in Münster den CSD und den ökumenischen CSD-Gottesdienst mitorganisiert, und als ich ins Vikariat ging, habe ich mir bewusst eine Gemeinde gesucht, die solche Fragen bereits geklärt hatte. Ich wollte in dieser Zeit etwas lernen und nicht in Diskussionen über meine Lebensform verheizt werden. Auch bei der Suche nach meiner jetzigen Pfarrstelle habe ich darauf geachtet, dass ich offen zu meiner Lebensform stehen kann – ohne sie ständig thematisieren zu müssen. Bisher bin ich in meinen Gemeinden noch nie deshalb angefeindet worden.
Wie bringen Sie als Pfarrerin die Themen queerer Menschen in Ihre Arbeit ein?
Im Moment halte ich es noch für sinnvoll, viel Öffentlichkeit zu schaffen für Menschen, die queer leben und lieben – in Gottesdiensten, in der Seelsorge, in Gemeindegruppen und Ausschüssen. Meine Hoffnung ist, dass wir alle, in der Kirche wie in der Gesellschaft, dann irgendwann so sensibilisiert sind, dass wir die verschiedenen Varianten von Geschlechtlichkeit gar nicht mehr thematisieren müssen. Ganz wichtig ist mir dabei die Sprache, denn Sprache ist das erste und deutlichste Machtinstrument, das wir haben: Menschen, die in unserer Sprache vorkommen, sind sichtbar; Menschen, die verschwiegen werden, bleiben unsichtbar. Und das ist sehr verletzend.
Was heißt das zum Beispiel in der Liturgie?
Das ist manchmal ganz banal: Wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin dazu einladen, den Psalm „im Wechsel zwischen Männern und Frauen“ zu sprechen, zuckt es in mir, weil dadurch Menschen ausgeschlossen werden, die sich keiner dieser Seiten klar zuordnen können. Dabei gäbe es so viele Möglichkeiten, diese Zweiteilung der Geschlechtlichkeit zu verhindern: Taufstein- und Kanzelseiten, alle über und alle unter 50, meinetwegen auch alle mit schwarzen und alle mit weißen Socken … Und die Gemeinde rede ich an mit „Liebe Geschwister“ oder „Kinder Gottes“. Es gibt doch so viel mehr als Geschlecht!
Wie reden Sie selbst Gott an?
Ich habe lange Zeit geschaut, ob ich für mich eine neue Anrede für Gott finden kann, denn eigentlich ist „Gott“ ja eher eine Berufsbezeichnung als ein Name. Aber auch nach einigen Umwegen bin ich doch wieder bei „Gott“ gelandet – und weil es am einfachsten ist, sage ich unter anderem auch „er“. Es soll ja nicht zu holperig werden. Allerdings versuche ich je nach Situation auch mal für bewusste Irritation zu sorgen und spreche über Gott von „ihr“ und sage auch lieber „Heilige Geistkraft“ anstatt „Heiliger Geist“. Was ich damit zeigen möchte, ist, dass Gott viel mehr ist als eine Person mit einem festgelegten Geschlecht.
Vor Kurzem haben Sie den ersten Queer-Gottesdienst in Witten gefeiert. Warum war Ihnen so ein Angebot wichtig?
Ich habe solche Gottesdienste in Münster schätzen gelernt. Jetzt lebe ich in Witten und möchte meine Wahlheimat mitgestalten, auch mit so einem Angebot. Die Idee habe ich in allen kirchlichen, auch ökumenischen Kanälen verbreitet. So haben sich Menschen zusammengefunden, deren Herz für queere Themen schlägt. In einer Arbeitsgruppe haben wir dann überlegt, wie so ein Gottesdienst gestaltet werden kann, und sind auf das Thema „Das Erste Mal“ gestoßen – das war offen für queere wie für nicht-queere Menschen.
Wie kam das Angebot an?
Sehr gut! Es kamen über 60 Leute. Von einigen weiß ich, dass sie das erste Mal seit Langem wieder eine Kirche betreten haben. Und es war ein buntes und segensreiches Fest.
Was wünschen Sie sich von Kirche an Unterstützung?
Wir sollten Haupt- wie Ehrenamtliche weiter für die Vielfalt von Lebens- und Liebesformen aufklären und sensibilisieren, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit. Und von der kirchlichen Leitungsebene wünsche ich mir die Integration dieser Aufklärungsarbeit im Studium, in der Ausbildung und in Fortbildungen. Auch eine hauptamtliche Netzwerkstelle halte ich für eine gute Idee. Und offen gezeigte Solidarität steht jedem gut und ist ein ganz einfacher erster Schritt: Eine Regenbogenflagge am Kreis- oder Landeskirchenamt zum IDAHOBIT (17. Mai – Internationaler Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie) oder im „Pridemonth“ Juni, in dem queere Menschen demonstrieren und feiern, wäre zum Beispiel ein tolles Zeichen.